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Zwischen Selfiesticks und “Niemals vergessen”

Zwischen Selfiesticks und “Niemals vergessen”

Verfasst von am am 04.12.2017 um 17:09.

Gedanken zu unserem Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau.

Angespannt und ehrfürchtig vor der Geschichte, die auf diesem Boden geschrieben wurde, fahren wir in Richtung Oświęcim. Jener Ort in Polen, der unter seinem deutschen Namen "Auschwitz" weltweite Aufmerksamkeit erfahren hatte und heute noch als Symbol des Holocausts gilt. Ein paar Schilder weisen uns stumm den Weg durch die unscheinbare Stadt zur Gedenkstätte und zum Museum des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau.

Ein Hauch von Disneyland?

Am sprichwörtlichen Ende der Straße ein plötzlicher Szenenwechsel, auf den wir an diesem heißen Augusttag nicht vorbereitet waren: voll besetzte Reisebusse, hektische Einweiser für Parkplätze, bunte Kioske die Snacks verkaufen und Menschen, die in der Wiese sitzend eben diese verspeisen. Eine lange Schlange verrät uns, wo sich der Informationsschalter, an dem auch die Zutrittskarten erworben werden können, befindet. Ein wenig verstört beschließen wir, am nächsten Tag früh am Morgen wiederzukommen - in der Hoffnung, dann weniger Menschen anzutreffen.

Menschenmassen warten auf Einlass in die Gedenkstätte.

Was hatten wir erwartet an einem Ort wie diesem vorzufinden? Respekt. Stille. Gedenken. Würdigung der Ermordeten. Ein Mahnmal. Und welchen Eindruck hat er uns beschert? Ein Schandfleck der Menschheit, der zu Entertainment verkommt? Vielleicht ist unser Urteil zu hart, unsere ersten Impressionen zu kurz und deswegen falsch?

Auf dem Weg zu unserem Übernachtungsplatz diskutieren wir die Pros und Contras von Besuchermassen in Auschwitz-Birkenau. Ja, so viele Menschen wie möglich sollen diesen Ort mit eigenen Augen sehen, sich in Erinnerung rufen wozu Faschismus und Fanatismus führen kann und begreifen, dass so etwas nie wieder passieren darf. Aber nein, der Besuch von Massen darf nicht um jeden Preis erfolgen. Auschwitz-Birkenau darf nie zum Eldorado für ErlebnistouristInnen werden, die geleitet von reiner Neugier und auf der Suche nach ein wenig Gänsehaut dem ehemaligen deutschen Vernichtungslager einen Besuch abstatten. Es darf nie zu einer Sehenswürdigkeit verkommen, zu einem banalen Ausflugsziel, das man, da man ohnehin gerade in der Gegend unterwegs ist, ganz nebenbei besucht. 

Der Besuchstag

Einen Tag später, es ist 6:45 Uhr und damit 45 Minuten bevor der Ticketschalter öffnet. Wir fahren auf den Parkplatz vor der Gedenkstätte und werden sogleich von einem der vielen Parkwächter auf einen Platz verwiesen. Nicht nur wir hatten die Idee schon so früh da zu sein, auch ungefähr 30 andere Personen, die bereits in der Schlange vor dem Ticketschalter warten. Das in zwei Teile gegliederte Gelände ("Auschwitz I" und "Auschwitz II-Birkenau") des ehemaligen Konzentrationslagers kann individuell oder in einer Gruppe begleitet von einem Guide (sog. “Educator”) besucht werden. Wir entscheiden uns ganz klar für Letzteres.

Am Tor mit der Inschrift "Arbeit macht frei" wird emsig fotografiert.

Die Führung beginnt auf dem Gelände des Lagers Auschwitz I, in das jeder Besucher und jede Besucherin nur durch das Tor mit der Aufschrift “Arbeit macht frei” gelangt. Das Tor ist der erste Stop der Führung und wie ein Nadelöhr,  da der Weg verstellt ist von Menschen die es fotografieren. Auch wir machen das obligatorische Foto von dem Tor. Selbst wenn daran nichts Verwerfliches ist, fühlen wir uns dabei irgendwie unwohl.

Unsere Gruppe ist natürlich nicht die einzige auf dem Gelände,  wir müssen deshalb warten, um in ein zum Museum umfunktioniertes Gebäude zu gelangen. Es ist das erste von vielen. Ich ertappe mich dabei, wie ich penibel darauf achte meinem Vordermann nicht auf die Fersen zu treten, anstatt bewusst wahrzunehmen, welchen Ort ich gleich betrete.

Unser "Educator" schleust uns durch die Zimmer, es ist stickig und beengt in den Gängen. An einzelnen Bildern, Gegenständen oder Dokumenten stoppend, erzählt sie mit sanfter und doch eindringlicher Stimme. Sie macht kleine Pausen zwischen ihren Ausführungen. Ich vermute, um den Zuhörenden Zeit zu geben um zu verarbeiten, was sie gerade gehört hatten.

Die Koffer der nach Auschwitz-Birkenau deportierten Menschen.

Massendeportation. Selektion. Zwangsarbeit. Gaskammern. Krematorien. Männer, Frauen, Kinder. 1,1 Millionen - tot. Ich konzentriere mich auf ihre Stimme, während ich gleichzeitig die anderen in den Räumen aufbereiteten unzähligen Ausstellungsstücke betrachte. Ich verliere mich in deren Geschichte, merke erst, dass “meine Gruppe” weitergezogen ist, als das Audiosignal der Kopfhörer schwächer wird.

Was bleibt von den Ermordeten?

Es bleiben ihre Koffer. Auf beinahe allen ist handschriftlich der Name und die Adresse der Besitzerin oder des Besitzers geschrieben - manchmal wohl hastig, manchmal mit großer Sorgfalt.
Ihre Schuhe. In der Masse an Schuhen die auf einem Haufen liegen, bleibt mein Blick immer wieder an bestimmten hängen. “Wer hatte diesen Schuh wohl getragen?”
Ihre Brillen. “Welche Bücher hatte der/die TrägerIn am liebsten gelesen?”
Ihre Haare - schonungslos einen schier unendlichen Haufen bildend. Ich höre auf mir Fragen zu stellen. Der Anblick der Masse an Haaren die den Opfern abgeschnitten wurden, treibt mir Tränen in die Augen. 

Jedes Gesicht eine Geschichte.

Einige Wände der Gänge in dem Gebäude, durch das die Gruppen im Gänsemarsch geführt werden, sind gepflastert mit Fotos der im KZ ermordeten Männer, Frauen und Kinder. Im Vorbeigehen versuche ich, ihre Namen zu lesen. Sobald ich länger stehenbleibe spüre ich die Unruhe der Person hinter mir. Weiter, immer weiter gehen. Doch ich habe das Gefühl, ich bin es den Opfern schuldig, ihre Gesichter bewusst wahrzunehmen und ihre Namen leise auszusprechen. Mein bescheidener Beitrag gegen das Vergessenwerden. Ich werde ihnen letztlich nicht gerecht. Es sind zu viele. Ich gebe auf, senke beschämt meinen Blick und folge der Gruppe wortlos.

Im Freien sehe ich in die Gesichter der Lebenden. Versuche darin zu lesen. Geht es ihnen genauso wie mir? Wie können manche so unbeschwert wirken an einem Ort wie diesem? 

Am Gelände des ehemaligen KZs Auschwitz II-Birkenau, das etwa 3,5 km von Auschwitz I entfernt liegt, setzt unser “Educator” ihre Ausführungen mit der gleichen Professionalität fort, während sie uns Richtung der ehemaligen Entladerampe führt. Jener Ort, an dem die Züge mit den Deportierten halt machten und die Selektion der Ankommenden erfolgte.

Der Waggon an der Entladerampe.

Der einsam abgestellte Eisenbahnwaggon inmitten der Gleise scheint ein besonders beliebtes Fotomotiv zu sein. Es liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft warum man sich für ein Foto posierend vor diesen Zug stellen sollte. Aber viele BesucherInnen tun es.

Der Gang von der Rampe zum hinteren, unscheinbaren Teil des Geländes wiegt am schwersten, ist beinahe unerträglich. Es sind jene Meter, die zu den Gaskammern und Krematorium führten. Diese Gebäude sind heute nicht mehr existent, nur mehr Bruchstücke ihrer Mauern sind geblieben. 

Das Gelände des ehemaligen KZs scheint unendlich, Baracke um Baracke (oder was davon übrig blieb) reihen sich aneinander. Krankheit, Hunger, Leid waren in diesen Baracken zuhause, in denen hunderttausende Menschen gegen ihren Willen untergebracht waren. Heute sind sie stumme Zeugen, die allein durch ihre Existenz den BesucherInnen des ehemaligen KZs von den schrecklichen Ereignissen, die sich vor über 70 Jahren hier zugetragen haben, erzählen.

Zeit zu begreifen

Auschwitz-Birkenau ist ein Ort, wo das Unfassbare fassbar wird. Zwischen den Massen von Menschen bewaffnet mit Selfiesticks mag es nicht für jeden und jede leicht sein, sich auf das Gesehene und Gehörte einzulassen.

Die Dimensionen des ehemaligen KZs sind erschreckend, bieten aber auch die Möglichkeit einsamere Ecken zu finden und sich in Ruhe mit diesem Ort auseinanderzusetzen.

Aber es gibt Orte auf dem Gelände der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau die einem zu einer unerwarteten Ruhe kommen und begreifen lassen. Zeit ist dabei ein wesentlicher Faktor. Diese sollte man sich nehmen, um sich auch abseits der geführten Tour den verschiedenen Ausstellungen zu widmen oder um auf dem riesigen Gelände so manche unscheinbare Gebäuderuine im angrenzenden Wald und deren Geschichte zu erkunden.

Der Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau lässt uns auch die kommenden Tage nicht los, noch immer liegt uns so manch Gesehenes schwer im Magen. Wir setzen unsere Diskussion vom Vortag fort, stehen immer noch unter dem Eindruck, dass sich viele der BesucherInnen der Wichtigkeit ihres Besuches nicht bewusst sind, sich stattdessen wie unbedarfte Ausflügler im Freizeitpark benehmen.

Doch in Zeiten des aufstrebenden Rechtspopulismus ist es wichtiger denn je, sich aufrichtig diesem dunklen, aber unauslöschbaren Kapitel der Menschheitsgeschichte zu stellen. Ein Besuch in Auschwitz-Birkenau als Mahnmal des Niemals-Vergessens ist dafür sicherlich eine außergewöhnliche gute Möglichkeit. Allerdings nur wenn dies auch mit dem angemessenen Verhalten und angebrachten Respekt gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus geschieht. Und bitte ohne Selfiestick.

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